Kolumne des DGOF Vorstands, diesmal mit Prof. Dr. Simon Kühne, Universität Bielefeld
veröffentlicht am 18.06.2025 // hg bei marktforschung.de
Die Möglichkeiten, Befragungsteilnehmende über Social-Media-Plattformen wie Instagram, Facebook und Co. zu rekrutieren, sind vielfältig. Leider werden die Erkenntnisse dazu bislang nicht systematisiert, so Prof. Dr. Simon Kühne. In seinem Beitrag plädiert er für die Definition von Standards für den Rekrutierungskanal, damit der Einsatz sozialer Netzwerke für die Gewinnung von Befragungsteilnehmenden besser kontrolliert werden kann.

Zugegeben, als ich zum ersten Mal Survey-Teilnehmende per Instagram-Anzeigen rekrutiert habe, fühlte ich mich eher wie ein Werber und weniger als Sozialforscher. Ich klickte mich durch Zielgruppen-Einstellungen, schob Budgetregler, bastelte an Bildern und Slogans. Mein „Produkt“? Ein Online-Fragebogen. Während die Sozialforschung idealtypisch auf Zufallsstichproben zurückgreift, dominieren in der Praxis nicht zufallsbasierte Stichproben (deren Probleme meine DGOF-Vorstandskollegin Dr. Carina Cornesse letztens in ihrer Kolumne thematisiert hat) und Online-Access-Panels. Doch wenn es darum geht, sehr spezifische Gruppen zu erreichen, stoßen selbst große Panels schnell an ihre Grenzen. Und genau hier kommt Social-Media-Recruiting ins Spiel.
Social Media als Brücke zu neuen und seltenen Populationen
Plattformen wie Facebook, Instagram oder TikTok sind nicht nur Orte der Kommunikation und der Selbstdarstellung – sie sind auch Marktplätze der Aufmerksamkeit. Forschende können dort wie Unternehmen auftreten und Anzeigen schalten, die nicht für Produkte werben, sondern um die Bereitschaft zur Teilnahme an einer Befragung. Ein Klick auf die visuell auf Bilder oder Videos gestützten Anzeigen leitet die User zu einem Web-Survey weiter. Für meine eigene Forschung war das ein echter Gamechanger. Zum Beispiel bei Regenbogenfamilien oder muslimischen Frauen, die einen Hijab tragen – beides Gruppen, die in Panels kaum in ausreichender Zahl vertreten oder identifizierbar sind. Dank Social Media konnten wir sie direkt ansprechen. Schnell, effektiv und vergleichsweise kostengünstig.
Millionen User gepaart mit einer hohen Flexibilität und gezielter Ansprache ermöglichen es, Populationen zu motivieren, die über klassische Panels oder Telefonstichproben schwer zu erreichen sind. Gerade in Zeiten sinkender Teilnahmebereitschaft an klassischen Befragungsformaten bietet Social-Media-Recruiting dabei auch die Chance, Stichproben zu diversifizieren und bislang schwer erreichbare Gruppen besser einzubinden. Für die Datenerhebung bedeutet das: verkürzte Feldzeiten, verbesserte Zugangsmöglichkeiten und eine Erweiterung der Stichprobengrundlagen, insbesondere bei Nischenzielgruppen oder explorativen Forschungsansätzen. Die Sozial- und Marktforschung macht von dieser Möglichkeit zunehmend Gebrauch: Allein in Deutschland sind über das Werbeanzeigenmanagement-System von Meta (Facebook, Instagram) täglich viele hundert laufende Rekrutierungskampagnen zu finden.
Offenheit als Risiko: Manipulation und Fake Interviews
Wo Licht, da auch Schatten: Die Offenheit des Social-Media-Recruitings ist nicht nur Vorteil, sondern auch potenzielle Achillesferse. Die Probleme aller offenen Surveys, also solcher, die ohne Zugriffsbeschränkungen über das Internet von praktisch jeder Person weltweit erreicht werden können, verstärken sich in Social-Media-Umgebungen durch deren spezifische Logiken: Die hohe Sichtbarkeit von Inhalten, die einfache Teilbarkeit über die User-Netzwerke und vielfältige Möglichkeiten der Interaktion (Kommentare, Likes) sowie die Orientierung vieler Nutzer:innen an Selbstdarstellung und Signalwirkung begünstigen eine schnelle und teilweise unkontrollierbare Verbreitung von Umfragelinks – und damit auch Verzerrungen.
Social Media macht es damit einfacher als je zuvor, Zugang zu offenen Online-Befragungen zu erlangen. Dies erleichtert leider auch die gezielte Manipulation: Teilnehmende mit einer politischen Agenda können (wiederholt) absichtlich falsche Angaben machen, um die Ergebnisse einer Befragung in eine bestimmte Richtung zu verzerren. In Foren und Gruppen wird regelmäßig zur Manipulation aufgefordert. Die Umfrage zu Verbrennermotoren der CDU im letzten Jahr ist dabei eines von vielen Beispielen. Besonders anfällig sind Studien zu gesellschaftlich polarisierenden Themen wie Migration, Gesundheitspolitik oder Klimawandel. Neben individuellen Manipulationen stellen (halb-)automatisierte Angriffe ein zunehmendes Problem dar. Professionelle (kriminelle) Netzwerke und Bots können Online-Umfragen massenhaft ausfüllen, sei es, um Incentives zu erschleichen, oder um Studien zu sabotieren. Die Mechanismen solcher Angriffe und Manipulationen werden zunehmend ausgefeilter und sind für Forschende erst spät oder gar nicht erkennbar.
Social Media bietet all diesen Akteuren ideale Bedingungen: offene Links, große Reichweite, eine verlässliche Infrastruktur und wenig Kontrolle.
Wildwuchs statt Best Practice
Die Gestaltung von Kampagnen ist eine Wissenschaft für sich: Welche Bilder funktionieren? Wie lang darf ein Video sein? Soll der Algorithmus auf Reichweite oder Klicks optimieren? Setzen wir das Budget statisch oder dynamisch ein? Alles ist einstellbar, muss entschieden werden und hat prinzipiell Einfluss auf Teilnahmeverhalten und Datenqualität. In der Praxis bisher: trial and error. Systematische Grundlagenforschung im Bereich der Survey-Methodology liegt kaum vor. Der Black-Box-Charakter der Plattformen und Algorithmen erschwert dabei zusätzlich die Nachvollziehbarkeit und methodische Dokumentation einer Rekrutierungskampagne. Verallgemeinerbare Schlüsse und Best Practices lassen sich bisher kaum ableiten.
Ein Plädoyer für mehr Sorgfalt
Social-Media-Recruiting ist gekommen, um zu bleiben. Umso wichtiger ist es, dass wir als Forschende Standards etablieren. Aus meiner Sicht braucht es mindestens:
- Pretests – kleine Pilotstudien zeigen, was funktioniert und was nicht. Dies betrifft Anzeigen-Inhalte und Designs, die Effektivität und Effizienz der Kampagnen-Einstellungen sowie die Erreichbarkeit und Funktionalität des Web-Surveys.
- Monitoring in Echtzeit – die laufende Beobachtung von Antwortverhalten, Bearbeitungszeiten und Teilnahmefrequenzen kann helfen, Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen. Anomalien sollten untersucht und dokumentiert werden. Technische Möglichkeiten zur Unterbindung mehrfacher Teilnahmen von Individuen (z. B. über das Tracken von IP-Adressen) sollten vor dem Hintergrund datenschutzrechtlicher Fragen geprüft und ggf. implementiert werden. Aufforderungen zur Manipulation von Studien und das Posten von Befragungslinks in Foren und Online-Spaces (habe ich schon erlebt) können durch ein engmaschiges Monitoring auffallen.
- Ausdifferenzierung von Befragungs-Links – Im besten Fall leitet jede Anzeige zwar auf einen inhaltlich identischen Fragebogen weiter, jedoch über einen unterschiedlichen Weblink, sodass ein Ausschluss „verbrannter“ Anzeigen und Befragungslinks möglich ist. Dies ermöglicht dann auch einen Vergleich verschiedener Social-Media-Plattformen und erleichtert den Ausschluss von Befragungsdaten, die aus im Internet geposteten Aufrufen zur massenhaften Teilnahme/Manipulation resultieren.
- Attention Checks – Kontrollmechanismen wie Attention Checks können Fake-Interviews und automatisierte Antworten durch Bots zumindest in Teilen identifizieren. Dazu gehören etwa Items, die wie CAPTCHAs einfache Instruktionen überprüfen („Bitte klicken Sie auf Antwortoption C“, „Bitte klicken Sie auf alle Bilder mit Hunden“).
- Systematische Datenprüfung – statistische Analysen auf Konsistenz, Plausibilität und Ausreißer sind essenziell, um die Integrität der Datensätze zu gewährleisten. Verdächtige Fälle sollten anhand transparenter Kriterien identifiziert, für Datennutzende markiert und gegebenenfalls ausgeschlossen werden.
- Transparente Dokumentation und Kommunikation – Auftraggebende und Nutzende von Befragungsdaten sollten klar über die Rekrutierungsstrategie und die eingesetzten Qualitätssicherungsmaßnahmen informiert werden. Hierzu zählen auch Schätzungen möglicher Verzerrungen durch Undercoverage oder Selbstselektion.
Forschungsbedarf: Systematisierung der Erkenntnisse
Obwohl Social-Media-Recruiting in der Praxis zunehmend Verbreitung findet, steckt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Risiken und Chancen noch in den Anfängen. Empirische Studien zur Häufigkeit von Manipulationen und zur Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen fehlen weitgehend. Es besteht dringender Bedarf, die Effekte unterschiedlicher Rekrutierungsstrategien systematisch zu untersuchen, Best-Practice-Modelle zu entwickeln und evidenzbasierte Empfehlungen für Monitoring- und Qualitätssicherungsprozesse zu formulieren. Und schließlich: Wir müssen auch die Rolle der Plattformen stärker hinterfragen. Unsere Forschungspraktiken hängen zunehmend an der Infrastruktur einer weniger Tech-Giganten. Das hat Konsequenzen – methodisch, ethisch, ökonomisch. Wir sollten sie offen benennen.
Fazit: Möglichst viel aus Social Media holen – aber nicht um jeden Preis
Social-Media-Recruiting erweitert den Werkzeugkasten der Markt- und Sozialforschung: Es ermöglicht den Zugang zu neuen Zielgruppen und beschleunigt Erhebungsprozesse. Gleichzeitig ist es kein risikofreies Instrument. Ohne präzise Monitoring- und Qualitätssicherungsmaßnahmen können die erhobenen Daten erheblich an Validität verlieren. Es braucht klare Prozesse und ein gesundes Maß an Skepsis. Für mich bleibt Social-Media-Recruiting ein Feld mit großem Potenzial – und vielen offenen Fragen. Ich freue mich auf den Austausch dazu!
( https://www.marktforschung.de/marktforschung/a/social-media-recruiting-chance-und-risiko/)
Über die Person
Professor für Applied Social Data Science – Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie